Herr Schuffelen, Sie sind seit März Vorstandssprecher der ANWR Group. Ihren Start in dieser hervorgehobenen Position haben Sie sich sicher anders vorgestellt. Wie erleben Sie die derzeitige Situation?
Frank Schuffelen: Unabhängig von meiner Funktion als Vorstandssprecher erlebe ich die derzeitige Situation als sehr anspruchsvoll. An fast allen Stellen im Unternehmen, sei es bei den Händlern und Lieferanten, der Umsatz- und Liquiditätsentwicklung oder bei den sich sorgenden Mitarbeitern, gibt es große Herausforderungen. Der zeitliche Druck zur Lösung all dieser Themen macht die derzeitige Phase so besonders.
Ich erlebe die ANWR Gruppe als eine aktive und starke Leistungsgemeinschaft, deren gesunde und breite geschäftliche Basis – als Ergebnis soliden wirtschaftlichen Handelns der letzter Jahre – ein wichtiger Baustein bei der Bewältigung der aktuellen Krise darstellt.
Die Werte und Tugenden der Genossenschaft helfen uns und vor allem den Händlern die Herausforderung zu meistern. Das erleben wir in ganz vielen Gesprächen und anhand der vielen positiven Rückmeldungen aus dem Kreis der angeschlossenen Händler. Gleiches gilt auch für die intensiven und konstruktiven Dialoge mit der Industrie auf der Suche nach gemeinsamen Lösungen.
Wenn die Krise etwas Positives zu Tage gebracht hat – sofern man das überhaupt sagen kann – ist es, dass Handel, Industrie und Verbundgruppe näher zusammenrücken, um die Herausforderungen im gemeinschaftlichen Interesse zu meistern.
Nicht zuletzt spüre ich in unserer eigenen Mannschaft ein sehr großes Engagement und den unbedingten Willen, den Händlern in dieser schweren Phase zu helfen. Insbesondere die Arbeit in virtuellen Teams und auch die Nutzung neuer Kommunikationsformate funktioniert sehr gut. Hier hatten wir rechtzeitig die Weichen gestellt – davon profitieren wir jetzt.
Seit einigen Wochen kehrt eine gewisse Normalität zurück. Die Läden können branchen- und größenunabhängig in ganz Deutschland öffnen. Diese von vielen Händlern erhoffte Maßnahme hat aber zunächst nicht den gewünschten Effekt gebracht: Die Menschen halten sich beim Einkaufen – zumindest von Mode und Schuhen – zurück. Glauben Sie, dass das Vor-Corona-Niveau im Hinblick auf die Frequenzen und auch auf die Umsätze wieder erreicht wird? Wenn ja, wann?
Der Effekt ist branchenabhängig sicher unterschiedlich. Wo Teile des Sportfachhandels, insbesondere im Bereich des Laufsports, gute Umsätze erzielen, ist das Reisegepäck der Lederwarenhändler und modische Schuhe noch nicht so stark nachgefragt. Zusätzlich unterscheiden sich die ländlichen Regionen von den innerstädtischen Lagen. Die Jahre 2020 und 2021 werden nach unserer Einschätzung Übergangsjahre. Ich erwarte das Vorjahres-Niveau frühestens Mitte/Ende des Jahres 2021. Derzeit gehen wir davon aus, dass das Jahr 2022 ein halbwegs normales oder „eingeschwungenes“ Jahr werden kann.
Vor allem große Einkaufsstraßen und Center sind derzeit deutlich weniger frequentiert. Gerade hier werden die höchsten Mieten verlangt. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Verbraucher gerade diese Shopping-Destinationen meiden?
Sicherlich haben viele Menschen noch Respekt vor großen Menschenansammlungen, vor allem in geschlossenen Räumen. Dazu unterstützt die sicherlich notwendige Maskenpflicht nicht gerade das Shoppingerlebnis.
Wir spüren schon seit dem Lock-Down eine große Solidarität mit den lokalen Anbietern und den Fachhändlern vor Ort. Diese befinden sich in der Regel nicht in Einkaufscentern.
Wie bewerten Sie weitere Maßnahmen zur Stimulierung des Konsums wie etwa die vom HDE geforderten Konsumschecks?
Angesichts der aktuellen Perspektiven benötigten wir ein Bündel von Maßnahmen zur Stimulation des Konsums. Steuererleichterungen auf Unternehmen- und Bürgerebene würden dazu führen, dass diese Effekte unmittelbar im Geldbeutel von Unternehmer und Arbeitnehmer spürbar werden. Flankiert werden können solche Maßnahmen mit dem Ausbau von Freigrenzen für Minijobs, um zusätzlich die Lohnentwicklung zu beflügeln und mehr Flexibilität zu schaffen. Parallel dazu muss der Konsum stimuliert werden. Konsumschecks sind sicherlich ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Die Insolvenzantragspflicht ist bis Ende September ausgesetzt. Wenn die jetzt gestundeten Mieten nachgezahlt werden müssen, die Valuta für F/S zu Ende ist und die H/W-Ware bezahlt werden muss, erwarten viele eine Insolvenzwelle im Mode- und Schuhhandel. Prof. Gerrit Heinemann geht davon aus, dass bis zu 200.000 Geschäfte im Handel schließen könnten. Stimmen Sie zu?
Zunächst gehe ich davon aus, dass die Frist für eine Insolvenzantragspflicht von Ende September weiter verlängert wird. Ansonsten würde die Vielzahl der bisher eingeleiteten und umgesetzten Maßnahmen ins Leere laufen. Je eher über die Verlängerung dieser Frist entschieden wird, desto besser, denn das verschafft Planungssicherheit.
Im Übrigen stimme ich Herrn Heinemann in dem Punkt zu, dass der Peak der Liquiditätsbelastung noch vor uns liegt. Deswegen sind wir aktuell in einem sehr intensiven Austausch mit unseren Händlern, dass sie sich für diese Zeit rüsten müssen und – falls noch nicht geschehen – entsprechende Förderkredite beantragen sollen. Dieses setzt voraus, dass jeder Unternehmer einen guten Überblick über die aktuellen und zukünftigen Finanzbedarf hat. Hierbei unterstützen wir unsere Händler bestmöglich über unsere Handelsberater.
An einem Schlagabtausch über die Nennung von Geschäftsschließungen möchte ich mich nicht beteiligen. Ich habe in den letzten Jahren festgestellt, dass der selbstständige Einzelhandel anpassungs- und widerstandsfähig ist. Ausgestattet mit einem klaren Fokus und entsprechender (digitaler) Instrumente gehe ich auch in Zukunft davon aus, dass der fachhandelsorientierte Schuh- und Modehandel einen festen Platz in der Wirtschaft haben wird.
Corona wird gern als „Brandbeschleuniger“ für die Strukturveränderungen in unserer Branche bezeichnet. Was ohnehin in den kommenden Jahren geschehen wäre, erleben wir nun binnen weniger Monate. Wenn im schlimmsten Fall zahlreiche auch größere Unternehmen der ANWR in kurzer Zeit in Schieflage geraten, was kann und wird die Verbundgruppe tun, um diese Unternehmen und die Genossenschaft im Ganzen stabil zu halten?
Auch wenn es Händler geben wird, die die Krise nicht überstehen werden, besteht aktuell nicht die Gefahr der Instabilität unserer Genossenschaft und der ANWR Gruppe insgesamt. Aufgrund unserer Branchenvielfalt im In- und Ausland sowie der bankengestützten Zentralregulierung haben wir eine stabile Basis und ausreichend Potential für die Zukunft.
„Der Job ist getan, wenn das Geld angekommen ist“, heißt es aus der Branche. Viele Unternehmen haben aber noch keine Zahlungen erhalten. Kurzarbeitergeld lässt auf sich warten, die Bewilligung der KfW-Kredite dauert sehr lange – und längst nicht immer gibt es für diese Kredite grünes Licht. Was wünschen Sie sich von der Politik?
Wir wünschen uns von der Politik, dass sie ihre Bemühungen im Zusammenhang mit der Versorgung der kurz- und mittelfristige Liquiditätsausstattung des Mittelstands sehr aufmerksam im Blick behält und Hemmnisse in diesem Zusammenhang abbaut.
Wir fordern daher, den KfW-Schnellkredit von 500 bzw. 800 Tsd. Euro mit einer 100%igen Haftungsübernahme durch die KfW auch auf Unternehmen bis zu 10 Mitarbeitern auszuweiten.
Gleichzeitig müssen Anreize geschaffen werden, dass der Mut der Händler zur Aufnahme einer zusätzlichen Verschuldung belohnt wird, damit kurz- und mittelfristig die Liquidität gesichert ist. Dieses kann zum Beispiel dadurch entstehen, dass gezahlte Zinsen aus KfW-Mitteln mit Steuerzahlungen zukünftiger Gewinne vollständig verrechnet werden können.
Erst wenn die Finanzierung mittelfristig gesichert ist, kann ein weiteres Programm zur Rekapitalisierung greifen. Hier sollte die Politik ihre Vorschläge mit den Interessensgruppen der Wirtschaft vorstellen und diskutieren. Über ein solches Programm würde dem Handel eine Perspektive geschaffen, dass die zusätzlichen „Corona-Schulden“ zurückgezahlt werden können. Diese Perspektive ist der erste Schritt in Richtung Bereitschaft für eine Kreditaufnahme bei der KfW.
Die bisherigen Erfahrungswerte unserer Händler belegen, dass die Bereitschaft der Hausbanken bei der Vergabe von KfW Mitteln – auch vor dem Hintergrund des 10%/20%igen Eigenrisikos – begrenzt ist. Deshalb haben sich die DZB Bank und die Aktivbank um eine eigene Akkreditierung zur Herausgabe von KfW-Mitteln bemüht. Dieser Prozess ist nun erfolgreich abgeschlossen und die ANWR-Gruppe ist über ihre beiden Banken in der Lage, die Händler mit KfW-Mitteln zu unterstützen. Allerdings müssen auch wir die strengen Anforderungen aus den KfW-Programmen entsprechend beachten.
Die dem Handel zugesagten Hilfen sind keine „Geschenke“. Gestundete Mieten müssen nachgezahlt, Kredite verzinst zurückgezahlt werden. Glauben Sie, dass hier noch Spielraum ist, um den Handel weiter zu entlasten – eventuell auch, indem ihm die Rückzahlung von Krediten erlassen wird?
Meines Erachtens gibt es unterschiedliche Instrumente und Handlungsspielräume für die Rekapitalisierung. Diese könnten u.a. Steuererleichterungen sein. Zu nennen ist hier u.a. die erweiterte Möglichkeit bzw. Ausdehnung der Verlustverrechnung auf zurückliegende Jahre und die Aufhebung der beschränkten Verrechnungsmöglichkeit mit zukünftigen Jahren. Ebenfalls fällt hierunter auch die Förderung der Digitalisierung in den jeweiligen Unternehmen durch entsprechende Zuschüsse.
Die Diskussion um Unternehmen, die ein Schutzschirmverfahren anstreben, wird derzeit sehr kontrovers geführt. Nicht nur Gewerkschaften werfen den Verantwortlichen vor, die Corona-Krise zur Sanierung zu „nutzen“. Haben Sie den Eindruck, dass trotz Corona die Schieflage vieler Unternehmen auch selbstverschuldet ist, indem man in der Vergangenheit nicht ausreichend Veränderungsprozesse angeschoben hat?
Das ist sicher nicht flächendeckend auszuschließen. Deshalb gibt es im Rahmen der Soforthilfen und der Förderkredite entsprechende Voraussetzungen, die es zu erfüllen gilt, und die auch im Nachhinein noch überprüft und gegebenenfalls geahndet werden.
Weitere Fragen an Herrn Schuffelen lesen Sie in der kommenden Ausgabe von schuhkurier.