Seit einigen Monaten ist der Einzelhandel wieder geöffnet. Welche Veränderungen im Konsumverhalten lassen sich bereits feststellen?
Wir befinden uns immer noch inmitten einer Phase der Veränderung. Die Menschen leben und planen extrem kurzfristig von Tag zu Tag und Woche zu Woche, weil niemand wirklich verlässlich sagen kann, was in drei, vier Monaten sein wird. Für langfristige Prognosen ist es daher zu früh. Auch aus Motivationsgründen sollten wir uns vor einer zu schnellen Zuversicht hüten, aber auch vor schwarzem Pessimismus. Der Mensch lebt von der Hoffnung, und die sollte immer stärker sein als die Angst. Wir müssen uns einen vorsichtigen Optimismus bewahren und möglichst flexibel auf die weitere Entwicklung reagieren. Die Welt wird sich nicht komplett verändern.
Geben Sie ein Beispiel: Was macht Ihnen Hoffnung?
Es ist in diesen Tagen sehr gut zu beobachten, dass die Lust der Menschen auf soziale Kontakte enorm groß ist. Viele fahren nicht in erster Linie in die Städte, um einen Bedarf zu befriedigen, sondern um mit anderen Menschen zu interagieren. Diese Lust auf Begegnungen ist die Voraussetzung dafür, dass der stationäre Handel wieder gute Umsätze erzielen kann.
Rechnen Sie aber dennoch mit langfristigen Veränderungen oder werden wir im Handel wieder zum Status quo vor Corona zurückkehren?
Die Technologie verändert das Einkaufsverhalten unvermindert. Das betrifft insbesondere den Modesektor, wie auch eine aktuelle Studie der Universität St. Gallen gezeigt hat. Die Menschen sind einfach bequem und schätzen den hohen Convenience-Faktor im Onlinehandel. Zugleich kann man eine starke Polarisierung unter den Verbrauchern feststellen. So gibt es eine Kundengruppe, die nach dem YOLO-Prinzip lebt („You only live once“) und die großen Wert auf Konsum legt. Schließlich kann keiner sagen, was morgen sein wird. Damit einher geht eine steigende Risikobereitschaft. Das sehen wir insbesondere bei jungen Erwachsenen. Dem gegenüber steht eine Gruppe, die auf Nachhaltigkeit, Langlebigkeit und Qualität achtet. Um den Luxussektor mache ich mir im Übrigen überhaupt keine Sorgen. Der wird extrem boomen. Die Frage ist: Was passiert in der Mitte und im Niedrigpreissegment?
Es wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Untergangsszenarien für den stationären Handel entworfen. Waren diese Prognosen rückblickend aus Ihrer Sicht überzogen?
Ja, das war teilweise überzogen. Die Menschen wurden in den Phasen des Lockdowns auf die beiden Sinneserlebnisse des Sehens und Hörens reduziert. Es gab das Internet, Social Media, Emails, Zoom etc. – und mehr nicht. Die Menschen wollen aber Produkte anfassen, sie wollen schmecken und riechen und eben vor allem auch anderen Menschen begegnen. Diesen Faktor darf man nicht unterschätzen, wenn man über die Zukunft des Handels spricht.
Wie werden sich die Innenstädte entwickeln?
Um die großen Städte wie München, Berlin und Hamburg müssen wir uns keine Gedanken machen. Die Metropolen werden dank der enormen Vielfalt an kulturellen und sozialen Angeboten ihre Anziehungskraft behalten. Der Mythos Stadt wird bleiben. Anders sieht es da schon bei den mittelgroßen Städten aus. Hier werden die Frequenzen eher zurückgehen und damit auch die Mietumsätze sinken.
Wie entwickelt sich die Beziehung zwischen Kunden und Handel? Ist Service der neue Luxus?
Das kommt wesentlich darauf an, wie Service definiert wird. Aus Sicht vieler Kunden besteht ein guter Service nicht nur aus der Bereitstellung einer Dienstleistung oder einer Information, sondern auch in Kommunikation. Die Menschen wollen sich über Produkte unterhalten können. Geschäfte haben eine soziale Funktion. Wir wissen, dass Menschen eher bereit sind zu kaufen, wenn sie freundlich begrüßt und bedient werden. Zum Service gehört somit auch die Kultur, mit der den Kundinnen und Kunden begegnet wird. Ich bin überzeugt, dass ein Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft des Handels in gutem Verkaufspersonal liegt. Der nächste Schritt der Kundenbindung ist übrigens die Immersion.
Was bedeutet das?
Ein gutes Beispiel ist aktuell die chinesische Marke Shein, die sich insbesondere unter Jugendlichen großer Beliebtheit erfreut. Immersion bedeutet, dass die Schnittstelle zum Gehirn immer direkter wird, Kundinnen und Kunden möglichst viel Zeit auf einer Website verbringen, und eine Abhängigkeit entsteht. Das gelingt bei Shein unter anderem durch ein Punktesystem, das den Spieltrieb anspricht. So gibt es etwa für das Hochladen von Bildern Punkte, die anschließend wieder im Shop eingesetzt werden können. Shein folgt damit dem Beispiel von Apple, Facebook oder Google, die alle darauf abzielen, möglichst viele private Informationen zu sammeln. Diese Daten werden dann anschließend wiederum genutzt, um die Kunden im Ökosystem zu halten. Je mehr Daten die Unternehmen zur Verfügung haben, desto zielgenauer können sie Bedürfnisse adressieren. Wenn Google über einen Fitness-Tracker weiß, dass nachmittags mein Glukose-Level auf einen Tiefstand fällt und meine Willensstärke nachlässt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich positiv auf eine Anzeige für eine Produkt reagiere, von dem Google bereits weiß, das ich mich dafür interessiere.
Das ist fast schon perfide…
Ja, das ist es. Gleichzeitig wird das Rad nicht neu erfunden. Viele vermeintlich neue Verkaufstricks kennen gute Verkäufer schon seit Jahrhunderten. Aber wir Menschen sind eben stinkfaul – und dafür bezahlen wir einen Preis. Zugleich gestalten die Onliner den Einkaufsprozess so einfach wie möglich. Bill Gates hat 1995 gesagt, die Zukunft des Handels liege im „Klick, Klick, Klick“. Amazon hat das auf einen einzigen „Klick“ reduziert. Das ist Bequemlichkeit. Und damit trifft Amazon einen Nerv bei vielen Menschen. Wenn ich etwas mit einem Klick bekommen kann, warum sollte ich dann an anderer Stelle mehrfach klicken müssen? Die Komplexität eines Kaufvorgangs wurde auf ein Minimum reduziert. Ein weiterer Meilenstein wird in diesem Zusammenhang möglicherweise die Speicherung der individuellen Körper- und auch Fußmaße sein, so dass Kunden beim Kauf eines Kleidungsstücks oder eines Schuh wirklich sicher sein können, dass dieser ihnen tatsächlich passt. In diesem Bereich wird intensiv geforscht und gearbeitet, aber es wird vermutlich noch einige Zeit brauchen, bis dies in der Breite zur Anwendung kommt.
Wie sieht das Geschäft der Zukunft aus?
Das Thema der Stunde lautet Partizipation. Ein Musterbeispiel ist der neue Google Store in New York City, der wie ein Wohnzimmer gestaltet ist. Wohnlichkeit und Familiarität sollen eine Nähe zum Kunden suggerieren. Das Geschäft wird somit zu einem Social Hub, in dem quasi nebenbei Produkte ausprobiert werden können und die Menschen einfach eine gute Zeit haben. Hier wird Handel als soziales Erlebnis definiert. Das hat nicht mehr viel mit der Funktion des Warenversorgers zu tun, die der Handel lange innehatte. Eines ist aber auch klar: Ein Händler kann nicht jeden Tag ein neues Einkaufserlebnis bieten, das ist schlicht unmöglich. Es kommt vielmehr auf die Atmosphäre an. Wenn diese stimmig ist, dann fühlen sich die Kunden in das Geschäft hineingezogen. Beim Betreten eines Geschäfts entscheiden sie innerhalb weniger Sekunden, ob sie bleiben oder den Laden wieder verlassen. Das soziale Ambiente ist dafür ein wesentlicher Faktor. Voraussetzung ist dabei natürlich, dass Menschen anderen Menschen wieder ungezwungen und ohne Angst vor einer Ansteckung begegnen können. Gelingt das nicht, entwickeln wir uns wieder zurück zum Höhlenmenschen.
Was meinen Sie damit?
Wir ziehen uns in die eigenen vier Wände in einen Zustand des Halbdunkels zurück. Wir haben noch Social Media, gehen aber nicht mehr nach draußen. Die junge Generation ist bereits eine Indoor-Generation, die einen Großteil ihrer Zeit in geschlossen Räumen verbringt. Dieser Trend wird durch den Klimawandel noch verstärkt. Wenn der Sommer nicht mehr das Himmlische ist, sondern das Höllische, dann suchen wir verstärkt klimatisierte Räume auf. Wir begeben uns in eine künstliche Welt, weil die reale zu gefährlich geworden ist.
Sie sprechen den Klimawandel an. Wie wird sich die zunehmende Diskussion über Nachhaltigkeit auf die Modebranche auswirken?
Mein Lieblingszitat in diesem Zusammenhang lautet: Verzicht können sie nicht verkaufen. Wenn man die Nachhaltigkeitsdiskussion wirklich ernst nehmen würde, müssten wir im Westen radikal weniger konsumieren. Aber sogar wenn wir den Konsum um ein Viertel zurückfahren, würden wir global gesehen lediglich auf den Stand von 2010 zurückfallen. Und auch damals gab es schon viel zu viel Abfall und Materialverschleiß. Zudem wird auch die Digitalisierung nicht für eine Umkehr sorgen können. Schließlich benötigen auch Elektroautos Strom und Lithium-Batterien, die auf dreckigen Containerschiffen um die ganze Welt transportiert werden. Die Menschen sind nicht bereit, ihr reales Konsumverhalten radikal zu verändern. Denn das hätte persönliche und auch volkswirtschaftliche Folgen. Am Ende wird der Arbeitsplatz gegen das Klima gewinnen.
Wo steuern wir dann hin? Von einer Naturkatastrophe in die nächste?
Wir brauchen wohl einen Pessimismus des Verstandes, aber einen Optimismus des Willens. Wir können mehr, wenn wir wollen. Wir Menschen denken in einem sehr engen Zeitkorsett. Wenn es zu Umweltkatastrophen wie kürzlich in Deutschland kommt, dann gibt es eine große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, aber nach relativ kurzer Zeit ist alles wieder vergessen. Der Zoologe und Evolutionsbiologe Josef Reichholf hat es so formuliert: Jede Generation hat ihre eigenen Bedürfnisse optimiert. In Europa und Nordamerika kennen wir seit vielen Jahrzehnten nur Wohlstand. Wir sind verwöhnt und es gewöhnt, dass unsere Wünsche innerhalb kürzester Zeit in Erfüllung gehen. Amazon hat in den vergangenen zehn Jahren nichts anderes getan, als die Kunden darauf zu trainieren, nicht mehr warten zu können. Sind wir überhaupt noch fähig zum Verzicht? Ich bin skeptisch.